25
Sep
2006

Neulich nachts in der psychiatrischen Notaufnahme

Life continues to be very irritating. Zum Glück aber - und der Gedanke ist irgendwie beruhigend - besitze ich mitnichten die Exklusivrechte an überaus verstörenden Alltagserlebnissen. Nein, nein, ganz im Gegenteil, auch andere Menschen finden sich mit schöner Regelmäßigkeit in Situationen wieder, auf die sie nichts und niemand vorbereitet hat und für deren Bewältigung eigentlich keine Strategien zur Verfügung stehen. Und zu diesen Leuten gehört auch meine gute Freundin S., seit vielen Jahren schon tapfere Mitstreiterin in der Schlacht ums tägliche Überleben.

"Hören Sie Stimmen?" "Wie bitte?" Fassungslos hielt sie mitten im schönsten Heulkrampf inne, schaute entgeistert hoch und suchte das verschlafene Gesicht des diensthabenden Arztes nach Resten von gesundem Menschenverstand ab. Nach einem Hauch von wenigstens durchschnittlich ausgeprägtem Einfühlungsvermögen. Das Mindeste, wie sie fand, was man in ihrer, durchaus als verzweifelt zu bezeichnenden Lage, von einem Mann in seiner Position erwarten konnte. Nichts geringeres, schließlich, als ein ausgewachsener, von der Welt gefälligst ernst zu nehmender Nervenzusammenbruch, hatte sie nachts um drei in das, in sattem Zahnbelagsgelb gehaltene Zimmer der psychiatrischen Notaufnahme und direkt vor seinen Schreibtisch gespült. Aber nicht sie war plötzlich übergeschnappt, nein, das Leben selbst hatte wieder einmal beschlossen, vollkommen durchzudrehen.

Die bereits schulpflichtge Tochter hatte Windpocken, ihr gerade den Windeln entwachsener Sohn Bronchitis, der dazugehörge Gatte zeigte die vertrauten Anzeichen von Überforderung und ihr fünf Jahre jüngerer Vorgesetzter keinerlei Verständnis für familiäre Ausnahmesituationen. Sie hatte seit Wochen selbst eine Erkältung und sich standhaft geweigert, das alarmierende Zucken im rechten Augenlied wahrzunehmen. An Schlaf war seit Tagen nicht zu denken gewesen und nun war es einfach passiert, das System hatte auf Error geschaltet, war runtergefahren und hatte sie einigermaßen hysterisch zurückgelassen.

Na ja, zugegeben: reichlich hysterisch zurückgelassen. Sie brauchte ein Schlafmittel, ein Bett, jemanden der ihr beruhigend übers verwirrte Köpfchen strich, ebenso überzeugend wie unbewiesen kund tat, dass die Welt morgen schon wieder ganz anders aussieht, der noch einmal die frisch gestärkte Bettdecke über ihr glatt zupfte und für heute das Licht ausmachte. Mit anderen Worten: sie brauchte eine Auszeit und sie hörte definitiv absolut überhaupt keine Stimmen. Hatte dieser langhaarige Assistenzarzt das denn nicht kapiert? Leider nicht. "Ich meine", fuhr dieser in verstörendem Plauderton fort, "hören Sie in Ihrem Innern vielleicht irgendwelche Stimmen oder...bekommen Sie gar Befehle von außerhalb?"

Es war einfach nicht zu fassen. Wann immer sie meinte, die Dinge glitten ihr über das vertraute Maß hinaus aus der Hand und sie drohte in einem Meer absurder Unübersichtlichkeiten unterzugehen...sie traf garantiert auf einen, der noch ein wenig verwirrter war als sie selbst. Warum war das eigentlich so, warum nur kam dieses ganze Leben wie ein einziger beschissener Kalauer daher? Und so fügte sie sich auch diesmal in das Unabwendbare, seufzte resigniert, beugte sich über den Schreibtisch, schaute den jungen Mann durchdringend an und antwortete mit der wahnsinnigsten Stimme, die sie im Repertoire hatte: "Sie haben vollkommen Recht. Ich höre Stimmen. Gerade jetzt besonders deutlich. Besonders böse. Und sie raunen mir unentwegt ins Ohr: Tööööööööööööööööööte ihn!"

Dann stand sie auf und ging nach Hause. Ausschlafen.

Karma im Koma

"Ferschterlisch! Forschbaar! Wisse Sie, immer wenn isch komm, dann heule die Leut!"

Genau SO hat mich seinerzeit niemand geringers als der Bestattungsunternehmer, der gerade unter größter Anstrengung meine frisch gestorbene Mutter die enge Stiege im Haus meiner Eltern hinuntergetragen und in sein Auto gewuchtet hatte, stoßseufzend von seiner bemitleidenswerten, seelischen Verfassung in Kenntnis gesetzt - was mich wiederrum wie ferngesteuert dazu veranlasst hatte, diesem sichtlich verzweifelten Herrn verständnisvoll tröstend auf die Schulter zu klopfen.

Dieses Ereignis jährt sich dieser Tage zum sechsten Mal und bis heute kann ich nicht fassen, dass mich das Leben nicht mal an einem solchen Tag mit seinen realsatirischen Details verschont hat. Bischen mehr Pietät hätte ich diesem Dasein schon zugetraut, oder ist das zu viel verlangt? Vielleicht ist das ja mein Karma. Irgendeine Rechnung aus dem vorvorletzten Leben...
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